Das Anatomisch-Chirurgische Institut in Braunschweig (1750-1869)

Ausbildungsstätte für Chirurgen, Hebammen und Studierende des Collegium Carolinum in Braunschweig

Vor 150 Jahren, am 4. Januar 1869, schloss in der Stadt Braunschweig das Anatomisch-Chirurgische Institut am Wendentor (heutiger „Gaußberg“) für immer seine Pforten. Es stellte eine regionalspezifische Mischung aus Lehranstalt, Fachschule sowie Gesundheitsamt dar. Mitte des 19. Jahrhunderts waren am Anatomisch-Chirurgischen Institut überregional bekannte Kliniker als Lehrende tätig (Carl Friedrich Trömner, Adolf Krukenberg und Carl Wilhelm Ferdinand Uhde). Sie spielten zugleich im Ober-Sanitäts-Collegium eine führende Rolle. Aufs Ganze betrachtet ist die Schließung des Instituts vor dem Hintergrund der Akademisierung und Professionalisierung des Medizinerberufs im 19. Jahrhundert zu sehen.

Werfen wir einen Blick auf die Ausgangssituation: Zur Gründungszeit des Anatomisch-Chirurgischen Instituts in der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es auf der einen Seite die Ärzte (Physici, Medici) und auf der anderen Seite die Chirurgen, hierhin gehörten zudem die Bader, Barbiere und Wundärzte. Frauen waren heilkundlich offiziell als Hebammen tätig. Im Gegensatz zu den Ärzten, die ein universitäres Studium zu absolvieren hatten, durchliefen z. B. die Chirurgen eine handwerkliche Lehre und waren in Zünften organisiert. Als gesetzliche Grundlage diente die Braunschweigische Medizinal-Ordnung von 1721. Deren Bestimmungen mangelte es offenbar an Praxisrelevanz, da es zahlreiche Klagen über die Krankenversorgung gab.

Ein Grund dafür war die mangelhafte medizinische Aufsicht. Das änderte sich 1747: Herzog Carl I. wandelte ein bislang beratendes Mediziner-Gremium, das „Collegium Medicum“, in eine neue Aufsichtsbehörde mit weitreichenden Vollmachten um; Dekan wurde der Hofarzt Heinrich Johann Meibom. Nun fehlte in Bezug auf Hebammen und Chirurgen als nächster Schritt noch eine Professionalisierung der Ausbildung. Dafür setzte sich Meibom erfolgreich ein:  Am 19. November 1750 erfolgte die Gründung des Anatomisch-Chirurgischen Instituts –  eine „Fachschule“ für Hebammen und Chirurgen. Als Vorbild fungierte vermutlich u. a. das seit 1724 existierende Collegium medico-chirurgicum in Berlin. Der Herzog übertrug Heinrich Johann Meibom die Leitung der neuen „Gesundheitsaufsicht“ und darüber hinaus die des Anatomisch-Chirurgischen Instituts.

Eine regionale Besonderheit stellte von Beginn an die curriculare und personelle Verknüpfung des neuen Instituts mit dem Collegium Carolinum dar: Studierende des 1745 eröffneten Collegiums konnten an den Vorlesungen des Anatomisch-Chirurgischen Instituts teilnehmen, zumal Medizin gleichfalls auf dem Lehrplan stand. Die angehenden Wundärzte des Anatomisch-Chirurgischen Instituts wiederum hatten das Recht, Vorlesungen des Collegium Carolinum zu besuchen. Beim Collegium Carolinum handelte es sich um eine neuartige Lehranstalt, die im Sinne von „Vernunft und Nutzen“ eine Mischung aus Universität, Gymnasium und englischen Colleges darstellte. Das Collegium sollte mit seinem propädeutischen und allgemeinbildenden Unterricht sowohl auf das Universitätsstudium vorbereiten als auch auf verschiedene Berufe in Verwaltung, Handel, Gewerbe oder Militär. Für die Professoren stellte das Collegium Carolinum oftmals ein Sprungbrett für eine universitäre Karriere dar. Das galt ebenfalls für das Anatomisch-Chirurgische Institut: So nahm Prof.  Karl Gustav Himly nach knapp sechsjähriger Tätigkeit in Braunschweig einen Ruf der Universität Jena an.  

Bild: Das Anatomisch-Chirurgische Institut. Abb.: Carl-Rudolph Döhnel 1957.

Im Januar 1751 startete im Theatrum anatomicum auf dem heutigen Gaußberg (damals Anatomieberg genannt) der Unterricht im Anatomisch-Chirurgischen Institut. Im Theatrum fanden anatomische Demonstrationen an Leichen sowie Vorlesungen statt. Daneben diente eine umfangreiche pathologisch-anatomische Präparatesammlung von Meiboms Vorgänger Hofrat Behrens als Anschauungsmaterial. Des Weiteren wurden täglich Übungen im 1740 eingerichteten Garnisonlazarett am Krankenbett abgehalten. Insgesamt gesehen ergänzten die praktische Ausbildung u. a. Vorlesungen in Pathologie, Arzneimittellehre, Physiologie, Geburtshilfe, Chirurgie sowie Besuche im herzoglichen Arzneipflanzengarten.

Wer offiziell als Chirurg bzw. Wundarzt tätig sein wollte, musste auf der Grundlage eines Reskripts vom 8. März 1745 vor dem Collegium Medicum in der Hofapotheke an der Schuhstraße eine Prüfung erfolgreich bestehen. Zulassungsvoraussetzung war u. a. der Besuch des Ausbildungskurses am Anatomisch-Chirurgischen Institut sowie die Vorlage des Lehr- und Geburtsbriefs. Es wurden Fragen nach Wundarten, Tumorformen, Behandlungsoptionen usw. gestellt.

Die Ausbildung der Hebammen war in der “Hebammenordnung“ von 1757 geregelt. Sie enthielt neben noch heute plausibel erscheinenden Anforderungen zusätzlich diejenige, selbst Kinder geboren zu haben. Die Lehrzeit wurde bei einer Hebamme absolviert.  Die Auszubildenden bezeichnete man als „Wärmefrauen“ (ein nur in Braunschweig gebräuchlicher Begriff). Darüber hinaus erteilte der zuständige Professor des Anatomisch-Chirurgischen Instituts für die Lehrgebiete Hebammenkunst und Anatomie Unterricht. Die Prüfung nahm wie bei den angehenden Chirurgen eine Kommission ab. Übrigens war die Hebamme während ihrer Berufstätigkeit bei komplizierten Geburtsverläufen verpflichtet, den jeweiligen Professor des Anatomisch-Chirurgischen Instituts oder einen gynäkologisch tätigen Arzt hinzuzuziehen.

Eine geplante geburtshilfliche Klinik („Accouchierhaus“) und ein Armenkrankenhaus fielen zunächst der chronisch leeren Staatskasse zum Opfer und wurden erst 1767 (Geburtshilfe, an der Ecke Wenden- und Wilhelmstraße) bzw. 1780 (Herzogliches Armenkrankenhaus, am Wendentor) umgesetzt. Das „Accouchierhaus“ ist damit Vorläufer der heutigen Städtischen Frauenklinik an der Celler Straße. Zielgruppe waren insbesondere ledige Mütter, die vordem oft unter menschenunwürdigen Bedingungen ihre Kinder zur Welt gebracht hatten.

Braunschweig hatte nunmehr reichsweit die vierte Geburtshilfeklinik. Ausführliche Informationen und Hintergründe über „Das Accouchierhaus in Braunschweig 1759-1776“ bietet der Beitrag von Gabriele Schlienz im Braunschweigischen Jahrbuch für Landesgeschichte (2016).

Dass diese Einrichtung dringend nötig war, zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die „Statistik der Todesursachen aus den Jahren 1765/69“ (N= 5541, zit. nach Karl-Rudolf Döhnels 1957 erschienener Dissertation):  Auf Platz 1 steht die Kindersterblichkeit (mit 3257 Fällen), gefolgt von „Auszehrung“ mit 1121 Fällen (meist Tuberkulose) und „Jammer“ („Agonie, auch Krämpfe“) mit 1094 Verstorbenen. Relativ selten starb man damals „altershalber“, und zwar lediglich 152-mal.

1844 wurde das Herzogliche Armenkrankenhaus in „Herzogliches Krankenhaus“ umbenannt. 1895 erhielt es dann im Zuge der Verlegung vom Wendentor zur Celler Straße den Namen „Landeskrankenhaus“. Bei dieser Gelegenheit wurde ein pathologisches Institut eingerichtet, dessen jeweilige Leitung laut Karl-Rudolf Döhnel noch Mitte des 20. Jahrhunderts die Erinnerung an die Tradition des Anatomisch-Chirurgischen Instituts gepflegt haben soll.