Dissertationen als wissenschaftliche Arbeit und Tauschobjekt
Ein Beitrag von Jan-Niclas Michels und Paul Tschirschwitz, entstanden im Rahmen des Seminars „jUBiläum – aus den Akten ins Netz“.
Die TU-Braunschweig ist heute ein Anlaufpunkt für Studenten aus der ganzen Welt und durch starke internationale Kontakte in der globalen Wissenschaftsgesellschaft vernetzt.[1] Die Vernetzung von Wissen ist jedoch keine Neuerfindung der letzten Jahrzehnte, sondern eine nun über ein Jahrhundert alte Tradition, die in eine Zeit zurückreicht, in der unsere technische Universität noch eine Technische Hochschule gewesen war. Ein wesentliches Indiz für diese Annahme ist der florierende Handel von 1911 bis 1944 mit den Dissertationen der Universität. Diese wurden nicht nur in das nahe Umland, sondern bis hin nach New York City verkauft.
Zwischen Wissenschaft und Kommerzialisierung von Dissertationen
Die Universitäten betrieben untereinander ein Tauschgeschäft mit den überschüssigen Pflichtexemplaren von Dissertationen. Dabei wurden meist gleichwertig empfundene Dissertationen ausgetauscht, gleichzeitig existierte auch ein Handel, der vor allem mit Außenstehenden geführt worden ist, bei dem Dissertationen gegen Entgelt käuflich erworben werden konnten. An diesen Handel waren Konditionen gebunden; es wurde vermieden, Dissertationen, die gleichzeitig in privatwirtschaftlichen Verlagen oder Zeitschriften erschienen sind, zu handeln, um keine Konkurrenz darzustellen und potenziell geschäftsschädigend zu wirken. Hierbei besaß die Universitätsbibliothek nicht die benötigten Ressourcen, um jede Dissertation, die sie auf Abfrage verkauften, zu prüfen, ob diese privatwirtschaftlich verlegt worden war oder nicht. Deshalb bedarf es der Einführung einer Vorschrift, die Rückseite der Titelseite bei Dissertationen mit dem Verlag, falls vorhanden, zu versehen. Außerdem sind die Erlöse aus diesem Handel in eine „Doktorkasse“ geflossen, im Zeitraum 1.4 bis 10.10 1936 sammelten sich auf diese Weise 228 Reichsmark an. Dabei handelte es sich bei den Auftragstellern um andere wissenschaftliche Institutionen, Privatpersonen, Industrielle sowie den größten Abnehmer von Dissertationen der TH: die Verlage und Buchhandlungen, wobei die Buchhandlung Flock in Leipzig definitiv wegen der hoch frequenten Zusammenarbeit eine Sonderstellung einnimmt. Beim Preis operierte die Universitätsbibliothek anders als die Verleger, statt die Dissertationen unterschiedlich preislich anzusetzen und beispielhaft die Oktavenseite als Anhaltspunkt für den Preis zu nehmen, arbeitete sie mit Festpreisen. Das hängt wahrscheinlich mit dem fehlenden Aufwand zusammen, denn nicht die Bibliothek druckte die Dissertationen, sondern es handelte sich um die abgegebenen Pflichtexemplare, wodurch kein Mehraufwand entstand. Das interessante ist der Preis, obwohl 1923 eine Hyperinflation stattfand und 1929 der Börsencrash in den USA, mitsamt den Folgen der Weltwirtschaftskrise stieg der Preis konstant. Vor dem ersten Weltkrieg war der Preis bei Großbestellungen von Buchhandlungen, wie der von Flock, bei 50 Pfennig pro Dissertation, 1928 lag das lediglich bei 1 Reichsmark, wobei dieser Preis speziell für die Buchhandlung Flock bestimmt war. Andere Besteller von Dissertationen zahlten zu der Zeit seit mehreren Jahren bereits 2 Reichsmark. Im Laufe der Inflation 1929 stieg der Preis 1930 weiter auf 2.50 Reichsmark für Hochschulangehörige und 3 Reichsmark für Außenstehende. Die Bibliothek stellte die Vermutung auf, dass vor allem Industrielle und die Buchhandlungen großen Profit durch den Einheitspreis erzielen würden. Trotzdem musste der Verkauf gesichert werden, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verbreiten, da die meisten Dissertationen nicht auf anderem Wege zu erwerben waren, durch den Umstand, dass 60% der Dissertationen nicht in einem Verlag oder einer Zeitschrift erschienen.
Die abgebildete Karte (Abb. 2) der Staatsgrenzen des Kaiserreiches dient als Visualisierung des von der TH Braunschweig ausgehenden Verkaufes von Dissertationen zwischen den Jahren 1911 und 1944. Die farbliche Zuordnung der eingezeichneten Pfeile dient der Unterscheidung von Innland- (Rot) und Auslandsverkäufen (Blau), sowie einem Überblick, der durch die Breite des entsprechenden Pfeils angedeuteten Verkaufsquantität. Hierbei fallen zwei deutsche Städte besonders auf; Leipzig und Berlin. Das erklärt sich durch die Buchhandlung Flock, welche in Leipzig ihren Hauptsitz hatte sowie mehrere Buchhandlungen, unter anderem die des Vereins Deutscher Ingenieure, die in Berlin ansässig waren. Die vielen dünnen Pfeile in das Ruhrgebiet verweisen vor allem auf Dissertationsbestellungen seitens der dort ansässigen Industrie, so zum Beispiel die Bestellung der Kölsch Fölzer Werke Aktiengesellschaft 1929, die der Universitätsbibliothek in ihrer Anfrage zur Dissertation „Busse, über den Einfluss der Giesstemperatur beim Hartguss“ gleichzeitig gestehen, den genauen Titel nicht zu kennen.[2]
Empfangsstadt | Anzahl an empfangenen Dissertationen |
Berlin | 39 |
Oldenburg | 1 |
München | 2 |
Darmstadt | 2 |
Duisburg | 5 |
Düsseldorf | 5 |
Freiberg i. S. | 1 |
Guben | 1 |
Ludwigshafen | 5 |
Frankfurt a. M. | 1 |
Stuttgart | 3 |
Leipzig | 71 |
Gelsenkirchen | 1 |
Hamborn | 2 |
Essen | 2 |
Köln | 1 |
Hamburg | 3 |
Kassel | 2 |
Schwäbisch Gmünd | 2 |
Bergefeld | 1 |
Bitterfeld | 1 |
London | 1 |
Gliwice | 1 |
Stettin | 1 |
Zürich | 1 |
New York City | 1 |
Katowice | 1 |
Amsterdam | 1 |
Die Zählung der 158 Dissertationsbestellungen als Tabelle dargestellt.
Allerdings war der Vertrieb der Doktorarbeiten nicht ohne Probleme, so beschwerte sich die Buchhandlung Flock des Öfteren, dass Dissertationen zu spät oder nicht angekommen wären oder auch dass der Preis zu hoch sei, für Dissertationen mit geringem Umfang, da Buchhandlungen deren Kosten per Seite berechnen würden. Auch innerhalb der Institute der TH Braunschweig gab es Schwierigkeiten, so beschwerte sich das Wöhler-Institut im Sommer 1932 beim Büchereiausschuss, dass Dissertationen des Institutverlages zum regulären Einheitspreis verkauft worden sind, statt zu den geplanten 4 Reichsmark. Das Institut hätte den eigenen Verlag „Mittelungen des Wöhlerinstituts“ ins Leben gerufen, um den Doktoranden zu helfen, indem es die Hälfte des Preises der verkauften Dissertationen, meistens 2 Reichsmark, an den Autoren gab, damit dieser einen Teil der Produktionskosten wieder erhält. Der Büchereiausschuss verwies lediglich darauf, dass Verlage kenntlich gemacht werden müssen, worauf keine weitere Antwort vorhanden ist.
Globalisierte Wissenschaft und „neue Politik“
Wenn auch ein Großteil des Handels mit Dissertationen innerhalb der deutschen Staatsgrenzen verlief, dürfen die Verbindungen der TH mit ausländischen Institutionen nicht unterschlagen werden. Im August 1921 meldete sich der neu gegründete Verein zur Versorgung des Auslandes mit Niederländischen Wissenschaftlichen Ausgaben mit der Verkündung, man wolle die zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 unterbrochene Kooperation sowie den Verkauf von in den Niederlanden oder niederländischen Kolonialstaaten verfassten wissenschaftlichen Texten wiederaufnehmen.[3] Sogar die Preise sollten, trotz der gegenwärtigen Hyperinflation, auf ihren Stand vor Ausbruch des Krieges zurückgesetzt werden. Wie auf der Karte zu sehen, bestanden auch Verbindungen in den osteuropäischen Raum. Die TH belieferte im Oktober 1937 in Kooperation mit der Auslandsabteilung der Koehler & Volckmar A.-G. & Co. die Sowjetunion, bereits 1932 wurde von Seiten der TH Interesse an den zweitteiligen Ergebnissen in Deutsch-russischer Kooperation entstanden Alai-Pamir-Expedition bekundet.[4]
Auch der englischsprachige Raum drückte mehrfach sein Interesse an den Braunschweiger Dissertationen aus, wenn auch nicht zwangsläufig mit dem gleichen Maß an formalem Respekt. Im Januar 1937 stellten die in New York ansässigen Research Laboratories einen Antrag auf die Übersendung einer Druckausgabe oder Fotokopie der 1928 erschienen Arbeit Th. Königs: „Ueber Agathensaeuren“. Das Clay Products Technical Bureau of Great Britain hatte schon im Juli des vorherigen Jahres ihr Interesse zu einer 1934 erschienen Dissertation von M. Andra bekundet, wobei im Vergleich zu ihren amerikanischen Kollegen dabei weder auf eine auf Deutsch verfasste Anrede noch eine korrekte Angabe des Titels Wert gelegt wurde.
Ende 1938 wurde der Verkauf von Dissertationen der TH, sowohl an internationale als auch deutsche Interessenten durch das Braunschweigische Ministerium für Volksbildung untersagt. Die bis 1944 fortlaufenden Anfragen der deutschen Industrie[5] zeigen, dass es der TH zumindest innerhalb der deutschen Grenzen möglich war mit ihren Dissertationen Handel zu betreiben, dabei markiert das Jahr 1938 das Ende der Braunschweigischen Auslandsgeschäfte kriegsbedingt bis zum Sturz des NS-Regimes.
Obwohl der internationale Dissertationshandel ohnehin nur einen Bruchteil des gesamten Handelsvolumens ausmachte, ist seine reine Existenz doch ein Zeugnis, dass Braunschweig und die TH bereits zwischen den Weltkriegen einen bedeutenden international bekannten Wissenschaftsstandort darstellten.
Fazit
Zusammenfassend zeigt sich, eine lange Tradition der TH, bzw. TU Braunschweig, im Land und in der Welt wissenschaftlich vernetzt zu sein. Das haben die Dissertationsversendungen, die stellvertretend für einen wissenschaftlichen Austausch stehen, bewiesen. Selbstverständlich ist die Betrachtung auf die TH Braunschweig beschränkt und nicht in der Lage den weitaus größeren und komplexeren wissenschaftlichen Austausch darzustellen. So eindrucksvoll die Ergebnisse und das Netz der Dissertationsversendungen – ausgehend von der TH Braunschweig – sind, sind wir uns sicher: Würden die Dissertationsbestellungen in anderen Universitäten zu der Analyse zusammengenommen werden, ergebe sich ein weitaus größeres und zusammengewachseneres Netz.
Quellen- und Literaturverzeichnis
UABS E1 Nr. 8.
UABS E1 Nr. 30.
UABS E1 Nr. 31.
Abb. 1: Es handelt sich hierbei um 6 Dissertationen aus den Jahren 1911 bis 1934. Eigene Aufnahme
Abb. 2: Darstellung von 158 Versendungen von Dissertationen in dem Zeitraum 1911-1944 KGberger: Kardes des Deutschen Reiches, „Weimarer Republik/Drittes Reich“ 1919-1937.18.1.2008 (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Karte_des_Deutschen_Reiches,_Weimarer_Republik-Drittes_Reich_1919%E2%80%931937.svg) (Letzter Zugriff 10.3.2024) Vorgenommene Änderungen: Einfügung von Strichmarkierungen und das Farblosmachen der Karte
[1]TU Braunschweig: International. (https://www.tu-braunschweig.de/international) (Letzter Zugriff: 5.4.2024).
[2] UABS E1 Nr. 8/2
[3] Da in der Korrespondenz nicht explizit von Dissertationen die Rede ist und auch keine konkrete Stadt vermerkt wurde diese Anfrage nicht in die Tabelle aufgenommen. Nr. 30.
[4] Die Auslandssektion Russland, Diese Lieferung lässt sich in der Karte nicht nachzeichnen, da die Empfängerstadt nicht verzeichnet wurde.
[5] So etwa die Anfrage nach einer Dissertation über die Wissenschaftliche Entwicklung des russischen Eisenbahnwesens im November 1941. In der Akte 8/3