Ein Beitrag von Ayse Ulusal, Ezgi Erdogan, Franziska Seeck und Tobias Goebel, entstanden im Rahmen des Seminars „jUBiläum – aus den Akten ins Netz“.
Anlässlich des 275. Jubiläums, das unsere Universitätsbibliothek feiert, schauen wir in diesem Blogbeitrag hinter die Kulissen der geschichtsträchtigen und von Umbauten und Platz- und Geldnöten geplagten Bibliothek und gewähren einen Einblick in den Berufsalltag der Bibliotheksassistentin Gertrud Kannengießer. Sie war von 1928 bis 1962 hier angestellt und erlebte 34 lange und ereignisreiche Jahre, auf die wir nun zurückblicken werden.
Die beeindruckende Bescheidenheit: Das Leben und die Karriere von Gertrud Kannengießer
Gertrud Kannengießer war im Grunde genommen eine völlig durchschnittliche Frau. Sie wurde am 8. Januar 1897 in Straßburg geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Diplom-Bibliothekssekretärin und kam auf einigen Umwegen (unter anderem über Bonn, wo sie als Schriftstellerin arbeitete) im Jahr 1928 an die Universitätsbibliothek der Technischen Hochschule Braunschweig – vorerst als Volontärin, da die Bibliothek zu Zeiten der großen Arbeitslosigkeit nicht über genug Geld verfügte, um eine vollständig ausgebildete Sekretärin anstellen zu können. Enttäuschen ließ Gertrud Kannengießer sich davon nicht, auch nicht von dem Wenigen, das ihr die Bibliothek in Braunschweig, die damals aus nur einem einzigen Raum bestand, bieten konnte. Nach Verstreichen der dreimonatigen Frist arbeitete sie zunächst für 100 Reichsmark, dann für 200 Reichsmark, bis im Jahr 1934 eine ihrer Kolleginnen in den Ruhestand ging und sie ihre freie Stelle und somit eine Festanstellung einnahm, in der sie allmählich eine Gehaltsstufe nach der anderen erklomm. Die Karriereleiter hingegen stieg sie nicht empor und verblieb 34 Jahre lang in ihrer Stellung.
Gertrud Kannengießer: Ein Blick hinter die Kulissen
Gertrud Kannengießer erzählt die Geschichte einer Frau, die fast genauso wie alle anderen Frauen zu ihrer Zeit gelebt hat. Das, was sie wahrscheinlich am meisten von den anderen unterschieden hat, ist lediglich die Tatsache, dass sie nie verheiratet gewesen ist. Ein Sonderfall oder eine Ausnahme war sie dadurch aber keineswegs – in ihrer Personalakte, die bis heute im Archiv der Universitätsbibliothek Braunschweig lagert, findet man dafür eine entsprechende Bescheinigung, die eher einer Rechtfertigung dafür ähnelt: Durch die Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges herrschte „Männermangel“, es war also unwahrscheinlicher, dass eine Frau heiratete. Diese Art der Rechtfertigung ermöglichte es Gertrud Kannengießer, eine Vollzeitanstellung auszuüben, was zu jener Zeit nicht unbedingt dem Regelfall entsprach.
Bücher, Ordnung, und Hingabe: Berufsalltag in der Universitätsbibliothek Braunschweig (1962)
Ihren Berufsalltag, in dem sie von ihrem Kollegium, ihren Tätigkeiten und all den anfallenden Problemen und Schwierigkeiten erzählt, schildert sie ausführlich in ihrem Erlebnisbericht von 1962. „Die Bibliothek der Technischen Hochschule Braunschweig – Wie ich sie erlebt habe (1928 – 1962)“ enthält ihre persönlichen Eindrücke, Erfahrungen und Schilderungen von Veränderungen und Beständigkeit während ihrer Zeit an der Universitätsbibliothek. Katalogisieren, Fernleihe, Ausleihe, den Überblick behalten, Bücher sortieren, zu wenig Geld, zu wenig Platz – all dies klingt zunächst nach einem Alltag, wie er auch heute noch in vielen Bibliotheken stattfindet, mit Ausnahme der Tatsache, dass die Katalogisierung und Ordnung der Bücher manuell und teilweise sogar durch schiere Gedächtnisleistung der Mitarbeiter*innen erfolgte. Wie dies damals in der Praxis aussah, verdeutlicht Gertrud Kannengießer mit folgender Aussage:
„Es ist bei uns die Regel, dass wer eine Bestellung entgegennimmt, sie auch erledigt. Wie schon erwähnt, muss man den Standort der Zeitschriften im Kopf haben, denn der Katalog gibt keine Auskunft darüber. Beim Hören des Titels vergegenwärtige ich mir gleich: „Magazin rechts, an der Längswand“. Richtig, da steht die Zeitschrift, und der gewünschte Band? Gute Augen sind Vorbedingung – der steht ganz oben. Nun eine der beiden schweren Leitern herbeischaffen, sie anstellen, dann wie ein Feuerwehrmann in die Höhe klimmen, danach mit der nicht leichten Last unter dem Arm wieder hinuntersteigen.“[1]
Gertrud Kannengießer führte diese Arbeiten, auch wenn sie für manch anderen vielleicht spröde und eintönig klingen mögen, mit viel Hingabe und Begeisterung aus. Bücher und Ordnung scheinen genau ihr Metier gewesen zu sein.
Kriegszeiten und Wiederaufbau: Die Herausforderungen
„Ich höre noch jetzt die Stimme aus dem Lautsprecher: ,Von heute ab wird zurückgeschossen.‘ Das war der Anfang.“[2]
Die Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkriegs zerstörten beides. Gertrud Kannengießer berichtet von der Bücherverbrennung, in der hunderte Bücher der Bibliothek auf dem Schlossplatz den Flammen zum Opfer fielen. In vielen deutschen Städten, wurden am 10. Mai 1933 tausende Bücher von jüdischen, sozialistischen und pazifistischen Autor*innen verbrannt. Dieser Akt bildete den düsteren Höhepunkt einer etwa vierwöchigen Kampagne gegen als „undeutsch“ betrachtete Literatur.[3]
Sie berichtet von den vielen Umlagerungen, bei denen satte 90.000 Bände mehrere Male entweder in Nachbardörfer oder in andere Räume umziehen mussten. Zudem berichtet Gertrud Kannengießer auch von der Stille, die sich über den Lesesaal legte, als die Studenten in den Krieg ziehen mussten. Sie berichtet von einem jüdischen Bibliotheksbesucher, der jede Woche kam und trotz Zutrittsverbot weiterhin geduldet wurde, weil niemand es fertig brachte, ihn des Gebäudes zu verweisen. Zwischen Judenhass und absoluter Ausgrenzung findet sich durch diese kleine Geste eine Spur von Menschlichkeit und Empathie wieder, von der man aus jener Zeit nur sehr selten und vereinzelt hört und liest. Sie berichtet außerdem von zerbombten Universitätsgebäuden und verbrannten Büchern.
„Es verbrannten unsere ganzen Patentschriften, im Verein für Naturwissenschaft verbrannte der Katalog. Es brannte der Kellerraum mit der sekretierten Literatur aus. Was die Nazis nicht verbrannt hatten, fiel nun – bittere Ironie – den Flammen zum Opfer, die ihre Gegner entfacht hatten“.[4]
Sie berichtet aber auch vom Weitermachen und Zusammenhalten: „Aber war eine derart auseinandergerissene Bibliothek noch arbeitsfähig?, so wird vielleicht jemand fragen. Jawohl, der Betrieb ging weiter.“[5]
Auch nach dem Krieg besserten sich die Zustände in der Bibliothek nur schleppend, der Wiederaufbau, die Neusortierungen der Bücher (wohlgemerkt aus dem Gedächtnis von Gertrud Kannengießer und ihrer Kollegin Fräulein Ludwig) und die gleichzeitige Wiederaufnahme des Bibliothekbetriebs erforderten viel Geduld, Arbeit und Durchhaltevermögen vom gesamten Personal. Nicht nur all die Bücher, die in den Ruinen auf dem Boden gestapelt in meterhohen Türmen aufragten, die Eimer, die den Regen auffingen, der durch das undichte Dach der Bibliothek hereintropfte oder ein Fernleihverkehr, den Gertrud Kannengießer und ihren Kolleginnen Fräulein Meyer und Fräulein Ludwig einen Bollerwagen zur Post ziehend selbstständig bewerkstelligen mussten, sondern auch die Tatsache, dass wertvolle Hochschulschriften als Toilettenpapier verwendet wurden, verlangten der ordnungsliebenden Gertrud Kannengießer einiges ab. Und dennoch gelang es ihr, zusammen mit ihrem Kollegium, den Studenten, für die es inzwischen eine Bedingung für die Immatrikulation geworden war, ein halbes Jahr bei der Trümmerräumung zu helfen, und einer neuen Bibliotheksleitung die Bibliothek am Leben zu erhalten, auch wenn Geld- und Platzmangel nach wie vor die größte aller Sorgen zu sein schien.
Gertrud Kannengießer: Kritische Betrachtung ihrer nationalistischen Gesinnung
Gertrud Kannengießers Verbindung zur NSDAP wirft zwangsläufig Fragen über ihre tatsächlichen Überzeugungen auf. Ihre Mitgliedschaft in einem NSDAP-Verband könnte als notwendiges Übel für ihre Anstellung in der Bibliothek interpretiert werden. Doch stellt sich die Frage: Inwieweit wurde diese Verbindung zu einer willigen Teilnahme an einer ideologischen Agenda? 1922 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym „Hertha Uentze“ den Roman „Unter der Trikolore. Ein Roman aus Straßburger Schicksalstagen“. Hier kristallisiert sich deutlich eine stark anti-französische Prägung heraus, die einen Schatten auf ihre Haltung während einer Zeit des politischen Umbruchs und der nationalen Unsicherheit wirft. War diese Feindseligkeit gegenüber den Franzosen eine individuelle Überzeugung und ein Versuch, sich in den politischen Strömungen der Zeit zu positionieren? In ihrem Selbstzeugnis erwähnt sie, dass sie aufgrund der schwierigen Verhältnisse durch die neue Herrschaft der Franzosen, zusammen mit ihrer Mutter Straßburg im Jahr 1919 verlassen mussten. Dies könnte ein Indikator für die Feindseligkeit gegenüber den Franzosen sein, die sich in jungen Jahren schon manifestiert hat. Das deutsch-französische Verhältnis im 20. Jahrhundert war schließlich geprägt von den Nachwirkungen des 1. Weltkriegs und damit einhergehender Feindseligkeit und Rivalität, insbesondere im Kontext der Frage nach der nationalen Zugehörigkeit des Gebiets Elsass-Lothringen. Die undurchsichtige Natur ihrer Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus bleibt ein Rätsel. Hat sie die Ideologie unterstützt, wenn auch nur oberflächlich, um berufliche Stabilität zu gewährleisten? Oder war sie eine stille Kritikerin, die aus Furcht vor Repressalien ihre wahren Gedanken verbarg? Immerhin hat sie selbst miterlebt, wie ihr Kollege Herr Blume seine Stellung verlor, als er sich abfällig über ein Hitlerportrait äußerte. Ihr Schweigen über ihre persönlichen Ansichten lässt viel Raum für Spekulation und wirft gleichzeitig die Frage nach ethischer Verantwortung auf. Jene Anhaltspunkte, die ihrem Selbstzeugnis zu entnehmen sind, scheinen keine konkrete Einordnung zuzulassen. Der gnädige Umgang mit dem bereits erwähnten jüdischen Besucher kurz vor dem Krieg und die Ratlosigkeit darüber, wie unmittelbar nach dem Krieg mit nun verbotener nationalsozialistischer Literatur umgegangen werden sollte, könnten darauf hindeuten, dass Gertrud Kannengießer sich eher den jeweils herrschenden politischen Machtverhältnissen anpasste, um nicht aufzufallen.
Die Kraft des Alltäglichen: Warum Gertrud Kannengießers Geschichte uns viel über das ‚Normale‘ in der Vergangenheit verraten kann
Warum erzählen wir nun aber die Geschichte von Gertrud Kannengießer? Was können uns Menschen erzählen, die damals ein genauso normales Leben geführt haben wie die meisten von uns heute, die höchstwahrscheinlich nicht „in die Geschichte eingehen“ werden? Was kann uns die überaus durchschnittliche Gertrud Kannengießer, die fast ihr ganzes Leben lang an einer Bibliothek in Braunschweig gearbeitet hat, für eine Geschichte erzählen? Wir erzählen ihre Geschichte, weil es genau diese durchschnittlichen Geschichten sind, die uns zeigen können, wie das Leben außerhalb von Geschichtsbüchern stattgefunden haben kann. Geschichten wie die von Gertrud Kannengießer zeigen uns den Alltag aus einer vergangenen Zeit, zeigen, was früher normal gewesen ist und zeigen vielleicht auch, warum wir heute so leben, wie wir eben leben. Oft wird ein so normales Lebensbild von Lebensbildern schillernder Persönlichkeiten überdeckt, von berühmten Menschen, die bahnbrechende Entdeckungen gemacht oder Revolutionen angetrieben haben. Wir erzählen die Geschichte von Gertrud Kannengießer also vielleicht auch, um zu hinterfragen, ob entsprechend unseres Demokratieverständnisses Geschichte tatsächlich allein dadurch „gemacht“ wird.
Frauenbild im 20. Jahrhundert
Zeitlich befinden wir uns in der Mitte des 20. Jahrhunderts, wo das klassische Rollenbild fest im gesellschaftlichen Zeitgeist verankert war: Der Mann geht arbeiten und ernährt die Familie, die Frau bleibt zu Hause und kümmert sich um Kinder und Haushalt und geht höchstens einer geringfügigen Beschäftigung nach. Doch wie man sieht, gab es auch für ledige Frauen wie Gertrud Kannengießer einen Platz in der Gesellschaft und durch die bereits erwähnte Erklärung für ihr Dasein als Alleinstehende war sie ihre eigene Brotverdienerin, ohne dabei eine Ausreißerin zu sein. Viel Zeit für Freizeit und Privates blieb ihr bei einer 54-Stundenwoche ohnehin nicht, auch nicht für den Haushalt und für die Pflege ihrer kränklichen und altersschwachen Mutter, mit der sie zusammenlebte. Doch auch dafür gab es eine Lösung: Für Frauen mit eigenem Haushalt bestand die Möglichkeit, einen unbezahlten freien Tag im Monat zu beantragen, der eigens für Haushaltsarbeiten gedacht war. Ihre Personalakte ist gefüllt von allerlei Anträgen dieser Art, ebenso von Urlaubsanträgen, Gehaltserhöhungen und Krankmeldungen.
Verborgene Lebensgeschichten: Die Bedeutung von Kannengießers Personalakte für die Geschichtsforschung
Warum lagert eine so völlig normale Personalakte über Jahre hinweg in den Archiven unserer Universitätsbibliothek, könnte man sich nun fragen. Die Antwort darauf ist simpel: Es handelt sich um ein Zeugnis einer Lebensgeschichte, eine Quelle, aus der Historiker*innen Erkenntnisse aus einer Zeit gewinnen können, die uns heute in der Gegenwart fremd und eigentümlich, aber vielleicht auch vertraut und mit ähnlichen Sorgen und Nöten versehen erscheint. Das Lebensbild von Gertrud Kannengießer ist ein winziges Puzzleteil, das sich am Ende in ein Gesamtbild der Vergangenheit einfügen lässt. Viele dieser kleinen Puzzleteile liegen bis dato vermutlich noch im Dunkeln; sie zu enthüllen, wird höchstwahrscheinlich noch Jahre dauern. Die Zeit und Mühe würde sich jedoch doppelt und dreifach auszahlen, denn der Mehrwert, der sich aus dieser Arbeit ergeben würde, könnte unsere Perspektive auf Vergangenes erweitern und uns vor allem aufzeigen, dass damals wie heute ganz normale Menschen gelebt haben, die irgendwo genauso sind wie wir.
Quellen
Kannengießer, Gertrud: „Die Bibliothek der Technischen Hochschule Braunschweig wie ich sie erlebt habe. 1928-1962.“ 1967, Braunschweig.
Personalakte: Universitätsarchiv der TU Braunschweig, B09, Nr.38.
Sekundärliteratur
Bundesarchiv: „10. Mai 1933: Verbrennung von Büchern in Deutschland.“ https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/NS-Digitalisierung/Buecherverbrennungen_virtuelle_ausstellung.html#:~:text=In%20mehreren%20deutschen%20St%C3%A4dten%20brannten,Aktion%20wider%20den%20undeutschen%20Geist%E2%80%9C.
[1] Kannengießer, Gertrud: „Die Bibliothek der Technischen Hochschule Braunschweig wie ich sie erlebt habe. 1928-1962.“ 1967, Braunschweig. S. 21.
[2] Ebd. S. 37.
[3] Bundesarchiv: „10. Mai 1933: Verbrennung von Büchern in Deutschland.“ https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/NS-Digitalisierung/Buecherverbrennungen_virtuelle_ausstellung.html#:~:text=In%20mehreren%20deutschen%20St%C3%A4dten%20brannten,Aktion%20wider%20den%20undeutschen%20Geist%E2%80%9C. [Zuletzt aufgerufen am: 23.04.24, 14:38 Uhr.]
[4] Kannengießer, Gertrud: „Die Bibliothek der Technischen Hochschule Braunschweig wie ich sie erlebt habe. 1928-1962.“ 1967, Braunschweig. Aus: Archiv der Bibliothek der Technischen Universität Braunschweig. S. 44.
[5] Ebd. S. 42.
[6] Personalakte: UABS, B09, Nr.38. S. 97.