„Hiermit teile ich dir meinen Rücktritt mit, da ich mich in die Sonne knallen werde.“ Marginalien zu den Braunschweiger AStA-Akten 1978-2003

Ein Beitrag von Dr. Julian Schenke1

Archiv, Orderrücken AStA-Akten
Ordnerrücken der neu erschlossenen Akten des AStA im Büro des Universitätsarchiv, Foto: Michael Wrehde

Schwungvoll und selbstironisch nehmen sie sich aus, die Einladungen des Studierendenparlaments der TU Braunschweig zu ihren jeweiligen Sitzungen. Gewiss wählte manche Ratspräsidentin, mancher Ausschussvorsitzende eher formelle, gesetzte Worte, adressierte die studentischen Parlamentarier als „gewählte Vertreter“. Doch bemerkenswert häufig begegnet der erschließende Archivar hier einer routinierten, gut gelaunten, zuweilen auch gelangweilten Hemdsärmeligkeit postadoleszenter Immatrikulierter. Ein kerniges „Hallo Leute“ oder ein „Du, der Du auserwählt bist“ eröffnen manche Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments oder zu verschiedenen Ausschusssitzungen. „Die Vögel singen, die Blumen recken sich empor“, was könne es da „Schöneres geben“ als sich in der Braunschweiger Teppichmensa zusammenzufinden? „♥lichen Glückwunsch! Du hast einen der heißbegehrten Sitze im StuPa für das WiSe 92/93 ergattert.“2 Zu wiederkehrenden running gags gehören Vermerke und Referenzen mit Bezug auf die Menge der Tagesordnungspunkte sowie auf die Dauer von Sitzungen. „Kommt zahlreich, diesmal wird es hoffentlich schneller gehen.“3 Oder: „Und das Unfaßbare geschah: Um 23.30 Uhr schloß der SR [Studierendenrat] seine Tore!!!!!!!“4 Kreativ fällt auch mancher Gruß der unterzeichnenden Amtsträger aus, so etwa: „Bis denne näh“5, oder: „Tja, also denn bis zum 18.11.1991“6, oder schlicht: „Ciao“7. Und interessant ist ganz nebenbei, dass regelmäßige Rücktritte zum Usus der studentischen Gremienarbeit gehörten, offenbar vorzugsweise zum Semesterbeginn, als manch einem erst Monate nach den längst publizierten Wahlergebnissen dämmerte, dass die in früherer Euphorie erstrittene Listenplatzierung tatsächlich zum Mandat führte. So dokumentiert eine rotznäsige, an den Ratspräsidenten gerichtete handschriftliche Notiz aus dem Sommer 1989: „Liebster Martin, hiermit teile dir meinen Rücktritt mit, da ich mich in die Sonne knallen werde. Viel Spaß noch. […] P. S. Nachrücker ist Rolf!“8 Und unter stillem Rekurs auf diese etablierte Praxis heißt es am Fuße einer der bereits zitierten Sitzungseinladungen 1992 präventiv: „PS: Solltest Du mit dem Gedanken spielen, zurückzutreten, so sei darauf hingewiesen, daß das erst zur 1. ordentlichen Sitzung geht, bei der konstituierenden wirst Du selber erscheinen müssen.“9

Keineswegs sollten diese unterhaltsamen Anekdoten zum Anlass genommen werden, das damalige hochschulpolitische Handeln der Braunschweiger Studierenden zu belächeln. Der weitaus größte Teil des vorliegenden (insgesamt eher lückenhaften) Aktenmaterials besteht aus nüchterner Verwaltungsprosa. Man findet Sitzungsprotokolle, Schriftverkehr, Rechenschaftsberichte sowie Wahlergebnisse zu den jeweiligen Hochschulgremien vor, gelegentlich angereichert mit praktischen Hinweisen zum ordnungsgemäßen Vorgehen bei der Ausrichtung von Sitzungen u. a. Es wird schlicht und ergreifend hochschulpolitische Interessenvertretungsarbeit geleistet. Dazwischen finden sich Protestschreiben und Resolutionen zu hochschul-, aber auch allgemeinpolitischen Themen, die die Anteilnahme der Braunschweiger Studierenden an den zeitgeschichtlichen Ereignissen dokumentieren. Auch ging es immer wieder – und besonders zwischen 1978 und 1982/83 – ausgesprochen ernst, gelegentlich dogmatisch, zuweilen hitzig zu, eben ganz so wie man sich das „rote Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) an den altbundesrepublikanischen Universitäten vorstellt. Es dominieren erkennbar linke, linksliberale und linksalternative Gruppierungen, in den Rechenschaftsberichten prangt ein ganzer Kranz politischer Referate für „Soziales“, „Frauen“, „AusländerInnen“, „Internationalismus“, für „Wissenschaftskritik“ usw. Bereits in den 1980er Jahren wird hier verblüffend konsequent „gegendert“ – auch wenn nicht ganz klar ist, inwieweit die Stilblüte „AusländerInnenreferentInnen“ aus sprachpolitischen Erwägungen oder aus satirischer Überspitzung derselben resultierte.

Nein, die zitierte Ironie deutet bei näherem Hinsehen auf ein heute nicht mehr ohne Weiteres zugängliches studentisches Kollektivitätsbewusstsein hin. Die vorliegenden Akten dokumentieren die fortgesetzte studentische Selbstverständniskrise nach den großen Bildungsexpansionsschüben der alten Bundesrepublik, in der den studentischen Gremien sichtlich die Fühlung mit der immer weiter anschwellenden Masse von Studierenden inmitten ökonomischer Krisendynamiken, knapper werdenden Hochschulmitteln und einer zunehmenden „‚Verrechtlichung‘ des Hochschulbetriebs“10 entgleitet. Am 01.07.1991 notiert ein Arbeitspapier von AStA-Mitgliedern verschiedener Fachhintergründe:

Die StudentInnenschaft befindet sich eindeutig in einer Krise. Dieses wird durch die geringe Wahlbeteiligung, Rückhalt bei Aktionen und einem überhaupt allgemeinen Desinteresse an Vertretungsansprüchen der Studierenden deutlich. Die Gesellschaft erzeugt bei ihren Mitgliedern einen Individualismus, der den einzelnen Menschen in der Masse verschwinden läßt. […] Dieses widerspricht dem Ideal einer verfaßten StudentInnenschaft.

Arbeitspapier eines Fachschaften-astas für das Wintersemester 91/92. Beilage zur Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 01.07.1991.

Zwar gelingen größere Zusammenkünfte wie die Vollversammlung der Studierendenschaft am 12. Juni 1991 im Auditorium Maximum, auf der eine Resolution gegen die Einsparmaßnahmen an niedersächsischen Hochschulen verabschiedet wird; und auch im Zuge des Bildungsstreiks knapp zwei Jahrzehnte danach (2009/10) entzündet sich bekanntlich eine bundesweite studentische Protestwelle. Doch dass der Gedanke einer gemeinsamen studentisch-korporativen Gemeinschaft schwindet,11 dass professionelle Hochschulpolitik zur Angelegenheit einer gut organisierten, politisch aktiven Minderheit gerät, kann der zeithistorisch Kundige auch in den vorliegenden Akten wiedererkennen. Dementsprechend scheint sich im Verlauf der 1990er Jahre eine relative Bürokratisierung der studentischen hochschulpolitischen Arbeit zu vollziehen: Die Listen von Tagesordnungspunkten werden immer seltener humoristisch garniert, ein gewisser verwaltungssprachlicher Standard setzt sich in den nun mit EDV-Programmen erstellten Schreiben und Protokollen durch.

Die Lektüre ist aufschlussreich und bewegend: Wer Studierende und die von ihnen geschaffenen Akten nicht nur als „Objekte des Verwaltungshandelns“ beiseitelegen, sondern als „eine[…] das Campusleben und den universitären Tagesbetrieb maßgeblich gestaltende[…] Kraft“12 im Medium der Überlieferungsbildung kennenlernen möchte, sollte einen Blick riskieren.


1. Zitat im Titel: UABS, Best. M01, Handschriftliche Mitteilung an die Studierendenschaft, 19.06.1989. Alle folgenden zitierten Archivalien ebenfalls UABS Best. M01.

2. Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 06.07.1992.

3. Einladung zur zweiten Sitzung des Haushaltsausschusses, 30.11.1987.

4. Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 01.06.1980.

5. Einladung zur zweiten Sitzung des Haushaltsausschusses, 30.11.1987.

6. Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 18.11.1991.

7. Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 01.02.1993.

8. Handschriftliche Mitteilung an das Studierendenparlament, 19.06.1989.

9. Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 06.07.1992.

10. Pollmann, Klaus Erich: Hochschulpolitik und Hochschulentwicklung nach 1945, in: Kertz, Walter (Hg.): Technische Universität Braunschweig. Vom Collegium Carolinum zur Technischen Universität 1745-1995, Georg Olms Verlag Hildesheim/Zürich/New York 1995, S. 601-643, hier S. 638.

Vgl. mit explizitem Bezug auf die TU Braunschweig Arbeitspapier eines Fachschaften-astas für das Wintersemester 91/92. Beilage zur Einladung zur konstituierenden Sitzung des Studierendenparlaments am 01.07.1991.

12. Hormuth, Dennis: Gemeinsam studentische Überlieferung gestalten?!, in: uniquellen.hypotheses.org, 01.11.2021, URL: https://uniquellen.hypotheses.org/340 [eingesehen am 24.01.2022].