Herr Dietmar Brandes bildet mit seinem Erfahrungsbericht den krönenden Abschluss des „Interview“-Formats Was Sie schon immer mal loswerden wollten… 275 Jahre Universitätsbibliothek Braunschweig – jetzt oder nie!. Anhand dessen wird nochmals verdeutlicht, welche Hürden und welche Errungenschaften die Universitätsbibliothek in der Vergangenheit durchlaufen hat.
1. Was waren Ihre Gedanken und Empfindung an Ihrem ersten Arbeitstag in der Universitätsbibliothek Braunschweig?
Vorab ein paar Bemerkungen: Die Universitätsbibliothek Braunschweig kenne ich nun 55 Jahre. 1968, als ich mein Studium begann, waren die Verhältnisse kaum beschreibbar, meine Konsemester benutzten die UB nur in Ausnahmefällen, ich wohl auch. Die Situation der damaligen Bibliothek wurde insgesamt an der TU Braunschweig sehr kontrovers gesehen: Vielleicht doch auflösen, weil ein hoffnungsloser Fall, wenn schon der Wissenschaftsrat vom „Aschenbrödel“ spricht? Da war die neue UB fast außerirdisch: 1971, als ich mit meiner Diplomarbeit begann, waren viele Studierenden und Lehrende vom Neubau und seinen Möglichkeiten einfach begeistert.
Die Antwort auf die Frage 1 kommt nun dreimal:
(1) Zum 1. April 1978 wurde ich Bibliotheksreferendar, lernte nun die Bibliothek von der anderen Seite kennen: Wie würde die Zusammenarbeit, aber insbesondere die Ausbildung an den vielen Stationen, mit den neuen Kollegen, die mich bislang nur als Benutzer kannten, erfolgen? Alle Bedenken zerstreuten sich ganz rasch; die Bereitschaft, mich zu integrieren, finde ich noch heute toll.
(2) Zum 1. April 1980 wurde ich als Fachreferent für Biologie, Pharmazie, Chemie und Geowissenschaften eingestellt. Ich kannte das Haus, sein Personal und seinen Direktor. Es schien alles vertraut zu sein, oder doch nicht?
(3) Zum 1. April 1987 übernahm ich die Leitung der Universitätsbibliothek. Hatte ich der Auswahlkommission mit meinem Fahrplan für die UB zu viel versprochen? Würde ich ihn überhaupt realisieren können? Schon am ersten Arbeitstag als Direktor holte mich die Wirklichkeit wieder ein, in Gestalt von Vertretungsproblemen und neuen Mittelkürzungen.
2. Was war Ihr größtes Erfolgserlebnis?
Das größte Erfolgserlebnis war die Realisierung des Erweiterungsbaus. Auf ihn mussten wir nach Realisierung des ersten Bauabschnittes noch einmal 25 Jahre warten, davon 15 Jahre in der Amtsperiode meines Vorgängers Prof. Daum, der dann mit gewisser Resignation in den Ruhestand ging. Die entscheidenden Kontakte zum Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur wurden erst durch den Deutschen Bibliotheksverband ermöglicht, wofür ich noch heute sehr dankbar bin. Auch dann dauerte es noch 3 Legislaturperioden bis zur Fertigstellung des Erweiterungsbaus. Trotz vieler kleiner Mängel und Probleme konnte die Universitätsbibliothek nun erstmals eine beachtliche Anzahl von Arbeitsplätzen für Studierende anbieten sowie gleichzeitig einen ausreichend großen Freihandbestand vorrätig halten. Nur durch die Lösung der Raumprobleme, unter denen die UB immerhin fast 250 Jahre leiden musste, war es z. B. möglich, das bis dahin „frei schwebende“ Universitätsarchiv als Abteilung auch räumlich in die UB einzugliedern.
3. Was war Ihre größte Herausforderung und was haben Sie daraus gelernt?
Die größte Herausforderung war die schrittweise Einführung der EDV. Einen Online-Katalog mit Bestellfunktionen hielt man in Braunschweig 1987 noch für etwas spinnert, zwar irgendwie wünschenswert, aber keineswegs notwendig. Also gab es hierfür keine Mittel. Aber wir waren ja allegro-Keimzelle: Längst hatte das von Bernhard Eversberg aus Eigeninitiative entwickelte Programm einen so guten Ruf in der Fachwelt, dass wir mit diesem Pfund wuchern konnten, und zwar beträchtlich. Nach der Wende wurden zahlreiche Bibliotheken in Sachsen-Anhalt von unserem Ministerium in Hannover mit allegro ausgestattet. Im Gegenzug bekam die UB 1991 den zusätzlichen staatlichen Auftrag zu Allegro-Entwicklung. Über die (allerdings geringen) Nutzungsentgelte konnte die UB nun selbst verfügen, die weitere Finanzierung erfolgte aus Projektmitteln des MWK sowie über bewilligte DFG-Anträge. Was brachte das für Braunschweig? Wir konnten im Hause nun einen allegro-Online-Katalog anbieten, haben eine erste Vernetzung im eigenen Hause im Rahmen des Entwicklungsauftrags selbst durchgeführt. 2012 wurde die allegro-Unterstützung offiziell eingestellt, allegro ist inzwischen Open-Source-Software.
Allegro-C war nie für den alleinigen Einsatz in großen Bibliotheken vorgesehen, geschweige denn von ganzen Verbünden. 1993 entschied sich Niedersachsen nach einer Markterkundung für die Übernahme des niederländischen PIC-Systems. Von Anfang an war ich im Gründungsbeirat sowie anschließend in der Verbundleitung des GBV und durfte damit das Wachstum des größten deutschen Bibliotheksverbundes über 20 Jahre mitbeeinflussen. Gelernt habe ich daraus, die eigenen Überzeugungen mit großer Beharrlichkeit gegenüber auch größeren und einflussreicheren Partnern zu vertreten, ohne dass es zu größeren zwischenmenschlichen Problemen kommt.
4. Falls Sie etwas an der Universitätsbibliothek ändern könnten, was wäre dies und weshalb?
[Frage blieb unbeantwortet.]
5. Gibt es Kolleginnen oder Kollegen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
In besonderer Erinnerung von den Verstorbenen ist mir mein Vorgänger Prof. Dr. Daum mit seinem oft unkonventionellen Verhalten und seiner ungestümen Begeisterungsfähigkeit. Er war mir mehr Vorbild, als mir seinerzeit klar war. Als Referendar wurde ich in den Fachreferaten vor allem von Dr. habil. Johannes Krause ausgebildet, der nach seiner Pensionierung noch die Bestände des damaligen Sondersammelgebiets Pharmazie aufbaute und das SSG in der Fachwelt etablierte. Auch ihn habe ich als Vorbild gern akzeptiert, wenn ich mich auch nicht für seine Vorliebe für Sahnetorte gewöhnen konnte. Von den Kolleginnen und Kollegen, die zu früh gegangen sind, erinnere ich mich gern an Frau Renate Rackebrandt, die mich mit großem Geschick in die Titelaufnahme einführte. Ihr tragischer Tod machte uns alle sehr betroffen. Auf die Loyalität meines früheren Stellvertreters, Herrn Dr. Düsterdieck, konnte ich mich ebenso verlassen wie auf sein großes Engagement für das Archiv und für die Kinderbuchsammlung. Herr Dipl.-Ing. Hans-Joachim Zerbst, der sehr lange die Erwerbungsabteilung leitete und die Fächer Elektrotechnik und Maschinenbau betreute, war mit seiner Sorgfalt und Genauigkeit ebenso eine große Stütze für die Universitätsbibliothek. Frau P. Y. Kroth, eine erste Sekretärin, hat mir vieles abgenommen und war immer offen für Neues.
6. Was waren Ihre Gedanken und Empfindungen an Ihrem letzten Arbeitstag in der Universitätsbibliothek Braunschweig?
An meinen letzten Arbeitstag in der UB erinnere ich mich gerne: Ich hatte das Vergnügen, die Entwicklung der Bibliothek des Collegium Carolinum mit ihren Intentionen, Chancen, aber auch den verpassten Gelegenheiten auf einem Symposium darstellen zu dürfen. Veranstalter waren die Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft (BWG) und das Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte.
Diese Veranstaltung hat sicherlich meinen Abschied erleichtert und ihm auch die Schärfe genommen. Irgendwie blieb ich ja mit der UB verbunden, ich nahm nur wieder den Status des Nutzers ein, so insbesondere bei der digitalen Bibliothek bzw. bei LeoPARD, die ich auf keinen Fall mehr missen möchte.
Aber: Der tägliche Gang durch das Haus fehlte plötzlich, damit auch viele interessante und anregende Gespräche, ebenso auch die Möglichkeiten, auf kurzem Wege manche kleinen Probleme mit den Betroffenen rasch und einvernehmlich zu lösen. Dass mir der menschliche Kontakt mit so vielen Personen so viel bedeutet hat, hätte ich nicht gedacht. Irgendwie fehlt er mir.